18. April 2013

Die Zeit der Störche 1



Wenn sich ein Storchenpaar findet, dann bleibt es ein Leben lang zusammen. Hat es ein Nest gebaut, dann kehrt es Jahr für Jahr an dieses Nest zurück, baut es neu, vergrößert es, macht es schöner. So kann es 30 Jahre und länger gehen.

Als Marcel klein war, hat ihn das nicht interessiert. „Die Störche sind wieder da“, sagte sein Großvater an seinem achten Geburtstag. Daran erinnerte sich Marcel, denn es war eine der letzten Erinnerungen an seinen Großvater.

Mit vierzehn schrieb er für den Biologieunterricht ein Referat über das Storchenpaar, dessen Nest er von seinem Zimmer im Dach mit dem großen Fenster sehen konnte. Er erklärte, dass alle Störche klappern, dass es viele andere Storcharten gibt, die wir gar nicht kennen, da sie nicht wie die uns bekannten Störche Zugvögel sind. Er erklärte, dass es Störche auf fast allen Kontinenten gibt. Und die ewige Treue des Storchenpaares nutzte er als Einleitung für den Mythos des Klapperstorches, der die Babys bringt. Welches Tier sonst eignete sich dafür? Die Treue, die Fürsorge, das Erweitern des Nestes Jahr um Jahr … Marcel erläuterte biologische Tatsachen und Mythos so gut ineinander verwoben, dass sich schon die zweite tiefe Erinnerung seines noch jungen Lebens mit den Störchen verband. Es war das beste Referat, dass er je gemacht hatte. Das wollte er noch öfter erleben. Anerkennung. Die erste Anerkennung für seinen Verstand erlebte er mit diesem Referat über die Störche.

Die Liebe der Störche kann aber auch furchtbar traurig sein. Störche sind Segelflieger. Sich in die Luft zu erheben oder in der Luft aus eigener Kraft zu bleiben, wenn die Sonnenwärme und ihre Thermik keinen Aufwind erzeugten - diese Gemeinheit der Natur kostet jedes Jahr tausenden Störchen das Leben. Besonders dann, wenn sie das Mittelmeer überqueren und selbst bei Gibraltar eine relativ kleine Strecke über Wasser, wo es keine Aufwinde gibt, überbrücken müssen. Reicht die Kraft, aufgezehrt von der tausende Kilometer langen Reise über den afrikanischen Kontinent, nicht aus und touchiert der Storch das Wasser, dann ertrinkt er. Störche können nicht schwimmen.

So kann es passieren, dass das Männchen, welches drei Wochen vor dem Weibchen beim Nest ist und alles für die Ankunft des Weibchens bereitet, das Nest inspiziert, ausbessert, einen Nahrungsvorrat anlegt, auf das Weibchen vergeblich wartet. 

Als Marcel 16 war erzählte er dies seiner ersten Freundin Simone. Die war mit Marcel das erste Mal alleine in seinem Zimmer und überbrückte die Unbeholfenheit der beiden mit einer Frage zu dem leeren Storchennest. Die Unbeholfenheit durch Nicht-Wissen, kann peinlich sein. Die Unbeholfenheit reiner Theorie und die Unfähigkeit, diese Unbeholfenheit zuzugeben, ist vermutlich die letzte Barriere, die das Kind von dem Erwachsenen trennt.