24. Mai 2014

Die Tankstelle

Das pulsierende Herz des Ortes, in dem ich aufwuchs, war eine Tankstelle. Ich, der ich keinen Führerschein besitze (und nie einen besitzen werde), sollte eigentlich keinen besonderen Bezug zu so einem Ort haben. Aber ich fand dort so viele Dinge, die ich ohne Zögern als Wesentlichkeiten meiner Kindheit, meiner Jugend, ja als Fundament meiner Persönlichkeit bezeichnen würde.

Das pulsierende Herz des Lebens um mich herum war tatsächlich eine Tankstelle.

Die Tankstelle lag an einer Durchgangsstraße, die den Ortsteil der Stadt, in der ich aufwuchs, mit einem anderen Ortsteil verband. Diese Straße wiederum war wie eine Tagente zur Hauptstraße, die schließlich zur Autobahn führte. Es fuhren also relativ viele Autos durch den Ort. Jahre später hat man diese Tankstelle dichtgemacht und direkt eine neue an der Autobahnauffahrt gebaut.

Es war also immer etwas los. Dank dieser Tankstelle habe ich als Kind das erste Mal Geld benutzt, um mir dort ein Eis zu kaufen. Da war ich vier oder fünf Jahre alt. Damals gehörte zu dem Wort „Groschen“ noch ein real existierender Gegenstand.

Auch den ersten Eindruck vom Sterben habe ich dank dieser Tankstelle erfahren. Eine Frau, Ende 40, war an der Ausfahrt der Tankstelle auf ihrem Mofa von einem Auto angefahren worden. Sie regte sich nicht und ihr Kopf lag in einer langsam größer werdenden Blutlache. Ich weiß noch, wie einer der Schaulustigen versucht hatte, sie anzusprechen. Ich weiß außerdem noch, wie ich als Kind den Eindruck von Zeit bekam. Es schien elend lange zu dauern, bis ein Krankenwagen kam. Und als man sie auf die Bahre hob, tropfte ihr Blut von ihren langen schwarzen Haaren auf das weiße Laken der Bahre. Zwei Tage erzählte man mir, dass die Frau gestorben sei. Erst zwei Wochen später waren die letzten Spuren der Blutlache auf dem Asphalt verschwunden. Ich könnte noch heute ganz genau die Stelle markieren, wo dies geschehen war.

Wer als Kind gerne Fußball spielt, der weiß eine Tankstelle zu schätzen. Man muss aber immer zu zweit sein, um einen Lederball aufzupumpen. Einer hockt sich hin, klemmt den Ball zwischen den Beinen fest. Der andere drückt die Stange der fetten Autoluftpumpe fest auf die Ventilöffnung. Nicht zu viel, sonst könnte der Ball sogar platzen oder eine Naht der Lederflächen könnte reißen. Fußball macht nur Spaß mit einem stramm aufgepumpten Ball.

Bei der Tankstelle bekam ich auch Comics. Wenn heute die Marvel-Verfilmungen Millionen in den Kinos einspielen - ich kenne die Storys alle. Ich war der Einzige, der sich diese Comics gekauft hatte. Wenn dort eine neue Ausgabe der „Rächer“ oder der „Fantastischen Vier“ im Regal stand, immer nahe am Eingang, dann war ein großer Teil des nächsten Taschengeldes schon verplant. Heute suche ich bei eBay nach diesen Taschenbüchern und darf das Zehnfache des ursprünglichen Preises bezahlen.

Als ich dann älter wurde kaufte ich meine Zigaretten an der Tankstelle. Immer bevor ich zur Schule gefahren bin.

Dann zog ich in den anderen Ortsteil und war nie wieder in dieser Tankstelle. Heute ist sie wie eine Ruine und die Siedlung meiner Jugend verfällt. Was einst als Unterkunft für die Arbeiter des größten ortsansässigen Unternehmens gedacht war, ist heute beinahe ein Ghetto. Und ich merke jedes Mal, wenn ich dort vorbeifahre, dass nicht nur für mich genau diese Tankstelle ein Lebensmittelpunkt gewesen war, der das bisschen Leben in diesem Ort durch Eindrücke und Durchgänge fremder Menschen genährt hatte. Heute ist es eine Ruine, eine zerfallende Zeit. Der alte Mann, der immer an der Kasse stand, lebt sicher nicht mehr. Die Besitzer sind jetzt vermutlich alte Menschen, irgendwo in einem Heim.

Auch zu pulsierenden Herzen ist die Zeit gnadenlos.