5. März 2014

Die Taube

(Ich möchte ausdrücklich betonen, dass ich diese Taube nicht bei Süskind geklaut habe. Wenn dann nur ausgeborgt. Das verfressene fette Vieh.)

Morgens. Mit dem Fahrrad durch die Fussgängerzone. Eine Stunde früher als sonst. Nur eine einzige Bäckerei hat so früh schon auf. Die mit der Verkäuferin, die rot wird, wenn ich den Laden betrete. Kaum vorstellbar, ist aber so. Sie wird rot. Es muss mindestens so sein, dass einer, der mir sehr ähnlich ist, schon seit geraumer Zeit ihre erotischen Phantasien beherrscht. Auch diese Zuckerbäckerin hat eine verruchte Seite.

Aber heute Morgen habe ich sie links liegen gelassen. Ich hatte mir die Brötchen schon selbst geschmiert.

Auch mich hat, wie den Protagonisten aus Süskinds Novelle, heute eine Taube aus dem Konzept gebracht. Sie war dick und fett und es schien so, als humpelte sie nur noch auf einem Bein. Sie gluckste halbtot vor mir in der Fussgängerzone, direkt vor meinem Fahrrad. Es war gerade nur wenig hell. Der Tag war erst im Begriff zu beginnen. Es war gerade so hell, dass sich erste grau-blaue Farben abzeichneten. Es sollte heute eine schöner Tag werden. Was das Wetter anging.

Ich umfuhr die Taube mit meinem Fahrrad. Es kam mir so vor, als würde sie mir nachschauen. So hielt ich wieder an und schaute zurück. Alles geschah in wenigen Augenblicken. Noch bevor überhaupt ein Gedanke in den Sinn hätte kommen können, ob ich in irgendwie hätte etwas unternehmen sollen, näherte sich eine Katze. Erst schleichend, wie aus dem Hinterhalt, dann schnell laufend, schliesslich springend.

Es müssen die letzten Kräfte der Taube gewesen sein, mit der sie ihren trägen Körper in die Luft wirbelte und mit halb ausgerissenem Flügel über das Tor einer Einfahrt eines Hauses in der Fussgängerzone verschwand. Die Katze sprang fauchend hinterher. Ein Geraschel war zu hören. Noch ein kurzes Fauchen. Dann war Ruhe. Tauben sterben leise.

Ich blickte wieder nach vorne. Es waren wirklich nur wenige Augenblicke. Es hatte gerade Mal den Wert einer kurzen Geschichte.

Bevor ich weiterfuhr schaute ich kurz zur Bäckerei rüber. Die Bäckerin stand am Fenster. Sie war ebenfalls Zeugin des Vorfalls geworden.

Ich lächelte sie an. Sie lächelte nicht zurück.

Die Bäckerei lasse ich jetzt immer links liegen. Jeden Morgen. Stattdessen werde ich morgens auf das Tor der Einfahrt schauen und vermuten, dort liegen die Reste der Taube. Bis in alle Ewigkeit. Bis die Ewigkeit diesen Tag und diese Erinnerung auslöscht.