21. Januar 2013

Über die Transparenz

Da sitzt einer von der Piratenpartei in einer TalkShow. Mit Jesuslatschen. Er praktiziert “Transparenz” in dem er während der Sendung mit seinem Smartphone twittert. Die anderen reden nur über Transparenz. Was haben öffentliche Statusmeldungen mit Transparenz zu tun? Was haben diese unsäglichen Piraten den anderen Politikern voraus?

Manche denken, diese Piraten seien nur eine Art Modeerscheinung, die irgendwann wieder von der politischen Bildfläche verschwindet. Das kann durchaus passieren, was aber eher an der Selbstzerfleischung der Parteiinternen liegt, als an den Motiven, die diese Partei überhaupt erst so groß gemacht hat: Der öffentliche Wunsch nach Transparenz.

Was bedeutet Transparenz? - Wenn in den 50er Jahren ein SPD-Kanzlerkandidat bei einer Wahlveranstaltung die Dinge gesagt hätte, wie es ein Peer Steinbrück heute tut, dann wäre das niemals an die Öffentlichkeit gekommen. Es sei denn, ein Journalist der BILD wäre anwesend gewesen und hätte die Tragweite eines Nebensatzes erkannt. Heute muss ein jeder Politiker fürchten, dass noch bevor er den Saal der Veranstaltung verlässt mehr Menschen von unüberlegten Äußerungen Kenntnis erlangen, als in den 50er Jahren Menschen Fernseher besessen haben.

Das ist Transparenz - das Aufdecken von Zusammenhängen, die bei einem Individuum von gewisser gesellschaftlicher Relevanz zusammenlaufen. Transparenz und Relevanz sind zwei Seiten derselben Medaille - und diese wiederum symbolisiert den gesellschaftlichen Wert eines Individuums. Oder: die gesellschaftliche Relevanz leidet unter transparent gemachten Ansichten. Denn zur Relevanz kommt noch die Verbindung zur Funktion des Individuums. Stehen die transparent gemachten Aussagen eines Individuums im Gegensatz zu einer Funktion, so verliert das Individuum an Relevanz.


Transparenz


Transparenz offenbart also den möglichen in einem Individuum manifestierten Widerspruch zwischen seiner Funktion und seiner Relevanz. Möchte also ein Individuum diesen Widerspruch möglichst klein halten, so gibt es dafür nur zwei Möglichkeiten:

1. Utopischer Ansatz: Das Individuum ist so rein, so frei von Widersprüchen, dass es egal ist, wie stark die Transparenz ist - dei Glaubwürdigkeit ist, egal bei welchen Äußerungen, immer gegeben. Diese Option ist sehr unwahrscheinlich.

2. Idealistischer Ansatz: Das Individuum ist nicht frei von Widersprüchen, ist sich diesen aber bewusst. Es versucht diese Widersprüche mit seiner Funktion in Einklang zu setzen, also sich selbst so kritisch zu hinterfragen, dass es die Prinzipien, die es vertritt auch lebt. Dieser Ansatz ist idealistisch und funktioniert nur so lange, wie sich diese Bereitschaft der Prinzipienänderung auch in der Transparenz widerspiegelt.

3. Gewöhnlicher Ansatz: Das Individuum übertüncht seine Widersprüche, mit Floskeln oder mit Lügen. Funktioniert prächtig, wenn die Transparenz nicht wäre.

4. Gewissenloser Ansatz: Das Individuum verkauft seine Widersprüche als Funktion, in dem es in sich die gegebenen Widersprüche der Gesellschaft instrumentalisiert. Man könnte diesen Ansatz auch “liberal” nennen. Man kann nämlich alles als “liberal” bezeichnen, was in seiner Widersprüchlichkeit nur deswegen erhalten werden soll, weil es einen Vorteil für ein Individuum bedeutet.

Es wird deutlich, worauf ich hinaus will: Transparenz ist der Angriff auf die Gewöhnlichkeit. Je mehr Transparenz wir haben, desto mehr muss ich über den Gegenstand nachdenken, über den ich glaube etwas zu sagen zu haben. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr weiß ich über die Zusammenhänge, desto mehr denke ich über die Folgen nach. Und je mehr ich weiß, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass die Relevanz dessen, was ich sage, erhalten bleibt. Und - um das Bild mit den zwei Seiten zu Ende zu führen - je mehr Transparenz desto mehr Dinge treten zu Tage, die die Relevanz eines Individuums in Frage stellen können.

Der Ausweg daraus? - Ganz einfach: Authentizität. Das ist der Begriff, der Relevanz und Funktion eines Menschen in einer Art Symbiose vereint. Ein Mensch ist umso authentischer, je kleiner der Widerspruch zwischen dem was er ist und dem, was der Welt um sich zu suggerieren versucht, nicht nur erscheint, sondern tatsächlich ist. Transparenz ist der Schatten des allgemeines Gesetzes (im Sinne Kants). Ein Schatten, der Konturen verrät.